Ein Vogel auf der Suche
nach seinem Käfig.
Franz Kafka
Der Astrologie wird gerne die Frage gestellt:
„Ist alles vorherbestimmt
oder sind wir frei in unseren Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten?“
Diese Art der Fragestellung impliziert bereits die Annahme, dass nur eine der beiden Antworten richtig sei: Entweder ist alles vorherbestimmt, oder wir haben einen freien Willen.
Vermutlich liegt die Wahrheit, wie so oft bei Entweder-Oder-Fragen, in der Mitte, in einem Sowohl als Auch. Wir sind determiniert UND wir sind frei. Wären wir nicht determiniert, würde jede astrologische Tätigkeit, jedes Deuten von Horoskopen und jede Form von Prognose wenig bis keinen Sinn machen. Die Erfahrung zeigt dem Astrologen jedoch immer wieder, dass aus den Konstellationen der Planeten am Himmel Rückschlüsse auf Erfahrungen und Geschehnisse der Menschen hier auf Erden gezogen werden können. Wir sind also determiniert.
Manchmal passiert bei einem Transit oder einer Auslösung jedoch einfach nichts oder nicht das, was man als Astrologe erwartet oder befürchtet hatte. „Kochbuchrezepte funktionieren nicht“, wie jeder Astrologe zu betonen nicht müde wird. Einer der möglichen Gründe ist, dass der Mensch sich entwickeln und seine scheinbar determinierenden Anlagen mit zunehmender Lebenserfahrung im Ausdruck verändern kann. Hier liegt unsere Freiheit, die wir ignorieren können, oder die wir ergreifen und nutzen können. Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb in der Astrologischen Psychologie Prognosen abgelehnt werden, denn sie determinieren uns. Sie machen uns glauben, dass alles vorherbestimmt sei, sie legen uns auf unserem weiteren Lebensweg fest.
In diesem Artikel möchte ich die Frage nach Determination und Freiheit im Horoskop aus Sicht der beiden astrologischen Deutungsmethoden beleuchten, die ich seit vielen Jahren studiere und anwende: der Astrologischen Psychologie und der traditionsreichen indischen Astrologie, deren philosophisches Fundament die vedischen Schriften bilden.
Drei Viertel determiniert – ein Viertel frei
Die indische Philosophie und Astrologie geht davon aus, dass mindestens drei Viertel der Ereignisse und Erfahrungen im Leben eines Menschen schicksalhaft und damit determiniert seien. Schicksal ist dort Karma, die feinstoffliche Folge unseres Denkens und Handelns in der Vergangenheit, sei es in früheren Inkarnationen oder in der Vergangenheit unseres heutigen Lebens. Vergangene Haltungen und Erfahrungen konditionieren unser Bewusstsein. Das Horoskop ist ein Spiegel dieses konditionierten Bewusstseins und repräsentiert damit diese drei Viertel Schicksal und Determination, die jeden einzelnen prägen.
Manche Astrologen behaupten, die Treffsicherheit der Astrologie beweise, dass das Leben des Menschen vollkommen determiniert sei, denn jedes Ereignis spiegele sich ja im Horoskop wider. Theoretisch ist tatsächlich jedes „karmische“ Ereignis, jede „karmische“ Verhaltens- und Denkweise, die auf dem Nährboden unseres „konditionierten Bewusstseins“ gedeihen, prognostizierbar – wenn wir NICHT Gebrauch von unserem freien Willen machen, der einen Ausstieg aus der Determination ermöglicht. Es stimmt aus indischer Sicht beides: wir sind determiniert UND wir sind frei.
Zu Lebzeiten war Shri Yukteshwar in Indien hauptsächlich als Astrologe bekannt. Im Westen wurde er erst durch seinen Yoga-Schüler Paramhamsa Yogananda ein Begriff. Yukteshwar erklärte:
„Ein Kind wird an dem Tag und zu der Stunde geboren, da die himmlischen Einflüsse sich in mathematischer Harmonie mit seinem individuellen Karma befinden. Sein Horoskop ist ein herausforderndes Porträt seiner unveränderbaren Vergangenheit und der sich wahrscheinlich daraus ergebenden Folgen… Allerdings liegt die Betonung dieser himmlischen Botschaft nicht auf dem schicksalhaften Verhängnis vergangener guter und schlechter Taten, sondern darauf, den Willen des Geborenen zu entfachen, dieser Knechtschaft zu entkommen. Was er getan hat, kann er ungeschehen machen. Niemand anderer als er selbst war der Verursacher der Auswirkungen, denen er heute in seinem Leben begegnet. Er kann jede Begrenzung überwinden, denn er selbst hat sie durch seine Handlungen erschaffen, und weil er über spirituelle Kräfte verfügt, die nicht astrologischen Einflüssen unterliegen.
Autobiographie eines Yogi
Im besten Falle unterliegen maximal ein Viertel unseres Denkens, unserer Haltungen, Erfahrungen und Handlungen im Leben dem freien Willen – wenn wir von diesem tatsächlich Gebrauch machen, diese Ressource bis zum Optimum ausschöpfen. Diese Freiheit des Willens liegt jenseits des Horoskops und damit jenseits des konditionierten Bewusstseins. Gemeinsam mit den drei Vierteln Konditionierung ergeben sie vier Viertel – unsere Ganzheit.
Das konditionierte Bewusstsein wird in der Sanskritsprache auch mit „Samskara“ bezeichnet. Das Wort setzt sich zusammen aus der Wortwurzel kri = handeln (Karma gehört zur gleichen Wortfamilie) und sam = angesammelt. Samskaras sind entsprechend angesammelte Handlungen, und zwar deren Widerhall in unserem Bewusstsein, in unserem Geist. Handlungen – dazu gehören vor allem auch unsere Gedanken und Gefühle – hinterlassen Prägungen in unserem Bewusstsein wie Rillen auf einer Schallplatte. Es liegt an uns, ob wir uns die immer gleiche Musik anhören wollen, oder ob wir neue Samskaras kreieren, aus der Kakophonie unserer inneren Schallplatte eine schönere Musik erschaffen wollen. Glauben wir den indischen Weisheitslehrern, so verfügen wir über die Kräfte, die uns genau das ermöglichen.
Freier Wille setzt eine bewusste Entscheidung voraus: Entweder den vertrauten und „bequemeren“ Weg der Konditionierung zu gehen – dieser Weg verlangt von uns keine bewusste Anstrengung, denn auf konditionierten Bahnen fließt das Leben ganz von allein – oder diesen vorgezeichneten Weg eben nicht zu gehen. Dieser andere Weg kann unvorhersehbare Folgen haben, denn wir verlassen den Rahmen unseres Horoskops, unseres konditionierten und damit „vorbestimmten“ Lebensweges. Der Schlüssel scheint das Wörtchen „bewusst“ zu sein. Konditionierte Reflexe und Automatismen haben in unserem Leben freie Bahn, weil wir uns ihrer nicht bewusst sind, weil wir sie einfach geschehen lassen, unbewusst, ohne uns zu fragen, was wir anders machen könnten, ob eine andere Art der Reaktion oder wenigstens eine andere innere Einstellung möglich wäre.
Unbewusstheit in diesem Sinne kommt dem Nichtwissen gleich, Avidya, eines der Kleshas, die den Geist trüben. Das Gegenmittel ist Wissen, Vidya. Wir können uns informieren und lernen. Zum Beispiel, indem wir zu einem Astrologen gehen und dort etwas über die Konditionierungen unseres Bewusstseins erfahren.
Das konditionierte Bewusstsein wird in der indischen Astrologie durch den Mond angezeigt. Das Ich, Ahamkara (Ich-Bewusstsein), hat gemeinsam mit Manas (Denkvermögen, das auch Gefühle und Sinnenswahrnehmungen einschließt) seinen Sitz in „Jivatman“ (Jiva + Atman): das individuelle höhere Selbst in Inkarnation, das wiederum eins ist mit „Atman“, dem universellen Selbst. Eben dieses Ich-Bewusstsein ist konditionierbar, während Atman an sich frei, unbegrenzt und unveränderlich ist. Letzteres entspricht in der indischen Astrologie der Sonne. Sie ist im indischen Horoskop Symbol für den freien und damit „göttlichen“ Willen, den Willen des Atman in uns, der eins ist mit Brahman: das „absolute, universelle Selbst“, das transzendente Göttliche.
Beim Anwenden des „freien Willens“ geht es darum, außerhalb der Sphäre des konditionierten Ich-Bewusstseins zu denken und zu handeln. Dem konditionierten Ich (Ahamkara) ist der freie Wille unbekannt. Es muss bildlich gesprochen „sterben“, damit freier (göttlicher) Wille möglich wird. Dies geschieht zum Beispiel, wenn wir uns selbst erforschen, unser Ich und seine Begrenzungen, die zu Problemen im Leben führen. Wenn wir diese zu verändern suchen, indem wir neue Sichtweisen des Lebens ausprobieren und neue Gewohnheiten einüben, stirbt ein Teil unseres alten „konditionierten Ichs“ – mit im Grunde unvorhersehbaren Folgen für unser weiteres Schicksal. Jede einzelne Erkenntnis und Änderung unseres Denkens und Handelns für sich allein betrachtet mag keine große Auswirkung auf unser Leben haben, noch keine tiefe Rille in der Schallplatte unseres Geistes hinterlassen haben. In der Summe und über einen längeren Zeitraum betrachtet allerdings durchaus. Das Geheimnis ist ausdauernde Beharrlichkeit.
In der indischen Tradition besteht außerdem die Möglichkeit der Nutzung eines Upaya, eines „Gegenmittels bei Schwierigkeiten und Hindernissen“ im Leben. Bei einem indischen Astrologen erfahren wir nicht nur Details über die Konditionierungen unseres Bewusstseins, sondern im Idealfall auch, was wir dagegen tun können.
Wir können zum Beispiel einen bestimmten Edelstein tragen, einen speziell angefertigten Talisman, über ein Mantra oder Yantra meditieren oder ein besonderes religiöses Ritual ausführen oder ausführen lassen, zum Beispiel ein Puja, ein Yajña, eine Messe in der katholischen Tradition, ein Gebet und ähnliches. Auch Kräuter und Tees gemäß astrologischer Auswertungen (Ayurveda ist ohne Betrachtung des Horoskops eigentlich unvollständig) und im Grunde sogar homöopathische Mittel zählen zu den Upayas, die wir anwenden können, wenn unsere bisherige Konditionierung die anderen Optionen unglaubwürdig erscheinen lässt. Mit solchen Maßnahmen wenden wir uns mehr oder weniger direkt an den höheren „göttlichen“ Willen, an das höhere Selbst in uns, das eins ist mit dem absoluten Selbst (Atman und Brahman). Wir geben dabei im Idealfall unser kleines Ich auf (geben uns dem Größeren hin), weil wir erkennen, dass unser Ich allein nicht in der Lage ist, alle Probleme und Konflikte zu lösen, und bitten um den Beistand des höheren Willen, des Atman in uns.
Ein besonders mächtiges Upaya sind Mantras oder Gebete. Schon die Bibel berichtet, welche Macht Worte haben können, denn: „Im Anfang war das Wort… Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ Das Wort – eigentlich der Gedanke – hat Schöpferkraft. Es sind primär die Gedanken, die unser Bewusstsein konditionieren. Dieses Wissen kann der Mensch nutzen, um die Konditionierung seines Bewusstseins in eine neue, wünschenswertere Richtung zu lenken, wenn er unter dem aktuellen Zustand leidet. Wem ein Mantra zu suspekt ist, kann es auch Affirmation nennen.
Mantras oder Affirmationen, intelligent angewandt, können relativ schnell der Schallplatte in uns einen neuen Rhythmus, eine neue Klangfarbe geben. Im Grunde ist bereits ein Gebet ein Mantra, zum Beispiel die Affirmation im Vaterunser: „dein Wille geschehe“. Wenn wir das sagen, wenden wir uns von unserem Ego ab („nicht mein Wille“) und wenden uns dem „höheren Selbst“ zu („sondern dein Wille“). Und wenn wir unser Ego sterben lassen, kann freier Wille möglich werden. Es klingt vielleicht paradox, aber wenn wir den höheren Willen geschehen lassen, dann wirkt freier Wille. Es ist nicht mehr paradox, wenn wir verinnerlicht haben, dass Brahman in uns lebt als Atman, das wahre, höhere Selbst.
Eine ebenfalls äußerst wirksame Technik, den Geist von Konditionierungen früherer Gedanken und Handlungen zu reinigen ist Yoga, vor allem meditativer Raja Yoga. Jñana Yoga vertreibt die Unwissenheit (Jñana = Wissen), Karma Yoga befreit uns von den karmischen Folgen unseres Tuns und Bhakti Yoga hebt die illusionäre Trennung zwischen „meinendem“ und „wahren Selbst“ auf.
Im 2. Teil dieses Artikels geht es um Freiheit und Determination aus Sicht der Astrologischen Psychologie mit einer Auswahl entsprechender Deutungstechniken.
Lese- und Video-Tipps:
Vaughn Paul Manley: Karma, Fate & Free Will (englisch)
Ernst Wilhelm: Astrology, Fate and Freewill. Video (englisch)
Paramhamsa Yogananda: Autobiographie eines Yogi. Kapitel 16: Wie man die Sterne überlistet. (englischer Original-Text)
Swami Vivekananda: Jnana-Yoga. – Karma-Yoga und Bhakti-Yoga. – Raja-Yoga.
Birgit Braun: Das Mantra in der vedischen Astrologie. Starfish-Homepage
Liebe Birgit,
absolut faszinierend das Thema und deine Gedanken dazu!
Die Möglichkeit einer Inneren Freiheit besteht für uns – und sie ist die Voraussetzung
für eine Freiheit den äußeren Bedingungen gegenüber.
Es gibt viele Beispiele für diese Art der wirklichen Freiheit…z.B. in den Tagebüchern von
Eddy Hillesum können wir über die inneren Prozesse lesen, die zu innerer Freiheit
führten: im KZ, unter übelsten Zuständen, arbeitete sie innerlich, löste sich dabei aus den
Mechanismen, die wir oft mit „Ego“ bezeichnen, entwickelte die Stärke, sich der Opferrolle
zu entheben.
Dort hinzukommen bedarf einer langen und intensiven Arbeit an sich selbst,
denn wir halten ja das, was wir sind, für unser wahres „ICH“. Gurdijeff nennt dieses falsche Ich eine Vielzahl von „ichs“, von denen jedes meint, die Herrschaft über uns zu haben, auch deshalb, weil diese
„ichs“ einander völlig unbekannt sind. Wir, die wir nie wirklich „zu Hause“ sind, sondern die Scheinbilder unser Projektionen für wahr halten, sind damit Spielball dieser verschiedenen Impulse, leben unser Leben im Grunde gar nicht selbst, sind damit den kosmischen Einflüssen ausgeliefert. ES geschieht uns…
Durch eventuelle „evolutionäre“ (die lt. Gurdijeff jedoch nur bewusst eingeleitet werden können) Prozesse kann sich eine Einheit in uns herausbilden, das was die christl. Religion „der Herr“ nennt und von dem sie sagt, frau/man müsse achtsam sein, denn wir wissen nicht, wann „der Herr nach Hause kommen wird“. In den Evangelien wird berichtet, dass Jesus seine JüngerInnen schlafend antraf….
Auch wir schlafen.
Liebe Grüße
Karin
Liebe Karin,
die „vielen Ichs“ nach Gurdijeff sind in der Anschauungsweise der Psychosynthese Teilpersönlichkeiten, wobei ein Grundsatz ist: „Wir werden von allem beherrscht, mit dem wir uns identifizieren. Wir beherrschen, wovon wir uns disidentifizieren.“ Das bedeutet, dass wir selbst diejenigen sind, die sich mit einem Teil-Ich identifizieren und sich so davon beherrschen lassen, oder eben nicht.
Dein Hinweis auf Etty Hillesum ist interessant. Ihre Geburtsdaten konnte ich im Netz finden:
Als sie im KZ ermordet wurde, stand der Alterspunkt in Konjunktion mit dem Galaktischen Zentrum, das grüne Bewusstseins-Aspekte zur Sonne/Neptun-Opposition bildet. Das supergalaktische Zentrum (Virgo Cluster) bildet mit dem Jupiter/Pluto-Quincunx ein Dominantdreieck: ein lebenslanger Lernprozess, der die gesamte Persönlichkeit umfasst und zu einer natürlichen Dominanz im Sinne einer Autorität führt.
Etty Hillesum ist ein sehr schönes Beispiel. Danke dafür!
Viele Grüße
Birgit
Man kann keinen freien Willen anwenden. Weil es keinen freien Willen gibt. Den wiederum gibt es nicht, weil es ihn nicht geben kann. Es kann keinen freien Willen geben, weil das Naturgesetzen widersprechen würde. Vor allem einem ganz elementarem Naturgesetz, nämlich dem der Kausalität. Spätestens seit Aristoteles zählt die Kausalität auch zu den Gesetzen der Logik.
Der verlinkte Wikipedia-Artikel sagt übrigens, daß die unterschiedlichen Auffassungen zum freien Willen aus unterschiedlichen Definitionen entspringen. Gemeinsam ist ihnen nur ein subjektives Empfinden von Freiheit. Dieses subjektive Empfinden kann man natürlich haben, wenn das so determiniert ist. In dem Fall hat man es allerdings deswegen, WEIL das so determiniert ist. Sowohl-als-auch-Positionen kennt der Wikipedia-Artikel auch, aber die werden per Zirkelschluß begründet: Man könnte dennoch anders wollen, in dem Falle, daß man halt irgendwie anders wollte. Die Unsinnigkeit dieser Begründung ist offensichtlich. Es bleibt also dabei: Der freie Wille erfordert eine Akausalität, die unlogisch und darum naturgesetzwidrig ist. Es kann keinen freien Willen geben. An einen solchen glauben müssen wir natürlich trotzdem, falls wir dazu determiniert sind. Aber das ändert nichts daran, daß es ihn nicht gibt.
Ranma