In Indien ist die Astrologie (ज्योतिष jyotiṣa) keine Erfahrungswissenschaft wie in der westlichen Hemisphäre, sondern sie offenbarte sich vor Urzeiten den alten Weisen (ऋषि ṛṣi). Rishis waren große Wesen, die während eines Zeitalters des Lichts und der Wahrheit lebten und spirituelle Erleuchtung (मोक्ष mokṣa) erlangt hatten. Ihr Wissen, das sich nicht nur auf die Sterne beschränkte, sondern auf viele Bereiche des Lebens und des Kosmos ausdehnte, wurde seitdem von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Auch der Yoga und Ayurveda ging aus den Offenbarungen der Rishis hervor. Erst vor etwa 3000 Jahren wurde dieses mündlich überlieferte Wissen nach und nach in den Veden schriftlich niedergelegt.
Die Wissenschaft von den Lichtern, wie Jyotish übersetzt heißt, mutet den modern aufgeklärten Menschen im Westen und dort vor allem den psychologisch orientierten Astrologen auf den ersten Blick oft eher altertümlich an mit ihrer Einteilung der Planeten in Wohl- und Übeltäter, in günstige und nachteilige Horoskopfaktoren. In Indien genießt die Astrologie jedoch ein hohes Ansehen und es wird kaum ein wichtiges Vorhaben, sei es eine Heirat oder eine größere Anschaffung durchgeführt, ohne den Ratschlag des Jyotishi mit einzubeziehen. So ist die indische Astrologie auch auf diese alltäglichen Belange ausgerichtet und vermag „konkrete“ Empfehlungen oder Lösungsmöglichkeiten bei Problemen aufzuzeigen.
Gleichzeitig verfügt die vedische Astrologie über einen reichhaltigen Fundus an Deutungsmöglichkeiten zur Untersuchung spiritueller Fragen im Horoskop vor dem Hintergrund der vedischen Philosophie. Astrologie ist aus vedischer Sicht eine spirituelle Wissenschaft, das Geburtshoroskop ein Spiegel unserer Seele und ihrer Inkarnationen. Sie gibt uns einen Schlüssel zur Entfaltung unseres Geistes. Die Astrologie spiegelt das gesamte Universum wider, wir können daher alle Lebensbereiche in unserem indischen Horoskop erforschen, sei es Gesundheit, Wohlstand, Beruf oder zwischenmenschliche Beziehungen, sei es unsere spirituelle Entwicklung. Als spirituelle Wissenschaft ist das wesentlichste Prinzip der Astrologie Selbsterkenntnis. Die Rishis betonten stets:
„Selbsterkenntnis ist die Grundlage allen Wissens.“
Selbsterkenntnis ist das Wissen um unser „wahres“ Selbst (आत्मा ātmā). Wir sind ein unsterbliches, unveränderliches Selbst, und alle unsere Inkarnationen sind damit verglichen Masken. Unser Problem aus vedischer Sicht ist das Ich (अहङ्कार ahaṅkāra), das sich nicht mit dem wahren Selbst, sondern mit der äußeren Welt identifiziert. Dies führt stets zu Ungleichgewichten, Problemen und Konflikten, die im indischen Horoskop erkennbar sind. Die Deutung des indischen Horoskops dient daher in erster Linie dazu, Selbst-Erkenntnis zu erlangen und damit den ganzen Kosmos zu verstehen, von dem wir ein Teil sind. Darüber hinaus bietet die vedische Astrologie Hilfsmaßnahmen in Form von Edelsteinen, Farben, Klängen, Mantras, Yantras, Kräutern, Nahrungsmitteln usw., um Ungleichgewichte im Horoskop und damit in uns ausbalancieren zu können.
Die Veden bestehen aus sechs Gliedern (वेदाङ्ग vedāṅga), von denen Jyotish eines ist. In den Veden geht es um das Selbst und um jenes Wissen, aus dem der Yoga und der Ayurveda entstanden sind. Yoga strebt nach Selbst-Verwirklichung, wozu ein gesunder Körper und Geist Voraussetzung ist. Ayurveda, die Wissenschaft vom langen Leben, will Körper und Geist heilen. Die vedische Astrologie ist mit dem Yoga und Ayurveda eng verbunden, hilft sie doch dabei, sowohl Anfälligkeiten für Krankheiten und Aussichten auf Gesundung als auch das spirituelle Potential eines Menschen einzuschätzen.