Diabolos, der „Durcheinanderwerfer“
Uranus steht im Horoskop für die Fähigkeit, aus festgefahrenen Situationen auszubrechen. Wenn wir uns in unserem Denken und Handeln zu sehr nach altbekannten und überlieferten, sprich saturnischen Strukturen ausgerichtet haben und so in einen Engpass oder in eine Krise geraten sind, kann uns Uranus einen Ausweg aus der Krise bieten, eine neue Sicht der Dinge, eine neue Lösung. Diese Lösung bedeutet oft einen Weg ins Unbekannte und Unerforschte, und sie präsentiert sich uns in der Regel plötzlich und überraschend. Wir wachsen nicht allmählich in das Neue hinein, sondern es bricht über uns herein, und es bleibt uns nichts anderes, als diese plötzliche neue Erkenntnis schrittweise mit unserem bisherigen Leben zu verbinden, wenn wir das Neue zulassen wollen.
Uranus wirft unser fest gefügtes Leben durcheinander. Nichts ist mehr so, wie es vorher war, wenn Uranus in Aktion getreten ist. In früheren Zeiten reagierte der Mensch auf ein solches Durcheinanderwerfen ängstlich und abwehrend. Diabolos ist das griechische Wort für „Durcheinanderwerfer“. Der Teufel ist der Verwirrer und Durcheinanderwerfer. Als der Planet Uranus noch nicht entdeckt worden war, galt Saturn, die „alte Ordnung“, als Grenze unseres Sonnensystems und Weltbildes. Alles, was darüber hinausging, war unbekannt, mit Angst besetzt und für viele Menschen von dämonischer Natur. Die uranische Neuzeit hingegen mit ihrem zunehmenden Wissen ersetzte allmählich die Angst vor dem Dämon des Unbekannten durch die systematische Erforschung und Aufklärung der Natur.
Den Übergang von der alten zur neuen Welt, von einer alten Ordnung, die für die Erfordernisse der Gegenwart, der „neuen Zeit“ oder des „jüngsten Tages“ (dies ist immer der heutige Tag!) nicht mehr angemessen ist, muss die Menschheit nicht nur als kulturelle Ganzheit bewältigen. Auch jeder Einzelne muss diesen Schritt früher oder später in seinem individuellen Leben nachvollziehen. Nicht selten wird dieser Übergang als Gratwanderung erlebt. Je nach seelisch-geistiger Konstitution fällt diese dem einen leichter und dem anderen schwerer. Eine Frau, die daran zumindest von außen betrachtet scheiterte, ist Anneliese Michel.
Anneliese Michel starb am 1. Juli 1976 im Alter von 23 Jahren an Unterernährung und fortwährenden Selbstverletzungen nach monatelangen seelischen wie körperlichen Qualen. Sie litt vermutlich an Epilepsie, vielleicht auch an einer Psychose; sie glaubte sich selbst vom Teufel besessen. Sie aß und trank in ihren letzten Lebensmonaten fast nichts mehr und verstand sich als Sühneopfer für die Sünden der Menschen ihrer Zeit. Sie wollte sich aus der Besessenheit befreien und glaubte, die katholische Kirche böte hierfür das alleinige Hilfsmittel an: den priesterlichen Exorzismus, die Teufelsaustreibung.
Kindheit in der katholischen Provinz
Anneliese Michel wurde 1952 geboren1 und wuchs in einem kleinen fränkischen Ort in einer Familie mit streng katholischem Glauben auf. Ihr Vater Josef Michel sollte eigentlich nach dem Willen seiner Mutter Priester werden, allein seine Lateinnoten verhindern diese ihm zugedachte Berufung und er erlernt das Zimmermannshandwerk, wie sein heiliger Namenspatron und sein leiblicher Vater. Sein Weltbild ist streng dualistisch, aufgeteilt in die Mächte des Guten und des Bösen, zwischen denen der Mensch eingebettet ist. Nach traumatischen Kriegserlebnissen im atheistischen Russland, für ihn eine Ausgeburt der Hölle, der er nur dank dem Beistand der Engel und des Himmels glaubt lebend entkommen zu sein, heiratet er 1950 Anna Fürg aus dem bayerischen Leiblfing, die sein frommes und zugleich enges Weltbild teilt. Sie bringt eine uneheliche Tochter, die vier Jahre alte Martha, mit in die Ehe, weshalb sie bei der Hochzeit auch nicht mit dem weißen Schleier der Jungfräulichkeit vor den Altar tritt, sondern dem damaligen katholischen Brauch entsprechend mit einem schwarzen Schleier den Bund der Ehe eingeht. Ein Skandal in dem kleinen Ort, der gelebte Widerspruch zwischen Glaube und Wirklichkeit, der jedoch nie wirklich verarbeitet schien, wie die Geschichte der ältesten gemeinsamen Tochter zeigen wird.
Anneliese ist das erste Kind aus dieser Ehe. Die uneheliche Halbschwester wird mit acht Jahren infolge einer Nierenoperation sterben. Anneliese ist damals (05.11.1956) vier Jahre alt, der Alterspunkt steht im Sextil zum Mars und nähert sich dem Saturn in der Waage nach dem Talpunkt des 1. Hauses. Ihre ersten acht Lebensjahre werden von der katholischen Frömmigkeit der Eltern und insbesondere der Großmutter väterlicherseits geprägt, die ebenfalls im Elternhaus lebt. Der Bogen spannt sich von den Weltuntergangsängsten des Vaters hin zum religiösen Weltbild von Himmel, Hölle und dem Fegefeuer der Mutter und Großmutter. Diese Bilder verankern sich tief in der Seele des kleinen Mädchens. Tägliches Beten, vor allem des Rosenkranzes, ist ein wichtiges Ritual. Jeden Tag wird die Frühmesse besucht, denn die tägliche heilige Kommunion ist ein wichtiges Bollwerk gegen die Sünde, die das kleine Mädchen jeden Tag immer wieder aufs Neue bedrohen könnte.
Zehn Jahre später wird Anneliese in einem Brief an ihre Mutter schreiben: „Eins musst du dir merken: in den Himmel will ich kommen, mag es kosten, was es will, für den Himmel ist mir nichts zuviel.“ Diese Welt der Heiligen zu erreichen ist schwer, sie wird einem nicht geschenkt. Den breiten Weg in die Hölle kann jedoch jeder leicht gehen, und sitzt er einmal in diesem brennenden Grund, gibt es kein Entrinnen, nicht in alle Ewigkeit. Doch neben diesen in alle Ewigkeit Verlorenen gibt es auch Seelen, die im Fegefeuer, im Purgatorium sitzen und dort durch gerechte Strafen ihre Verfehlungen büßen, um doch noch rein zu werden und in den Himmel aufgenommen werden zu können. Diese „armen Seelen“ werden durch das Leiden gereinigt, und wer mit ihnen leidet, der kann diesen armen Seelen helfen.
Wie gerne möchte doch so ein kleines Mädchen mit dem Wunsch zu helfen und zu dienen, die Dinge auch für andere Menschen wieder in Ordnung bringen (Aszendent und Sonne in Jungfrau, aufsteigender Mondknoten im 6. Haus). Anneliese bringt immer wieder ein kleines Opfer hier, ein hingebungsvolles Sühnewerk da: den Verzicht auf eine Süßigkeit, eine kleine Spende vom Taschengeld in den Klingelbeutel, ein Gebet für eine arme Seele. Schließlich will sie doch in den Himmel kommen, zu all den Engeln und zum Heiland, Jesus Christus.
Die Stadt – eine fremde Welt
Von sich selbst sagt Anneliese Michel, dass sie etwa seit ihrem 13. Lebensjahr zeitweilig besessen gewesen sei. Also zeitweise nicht mehr in der Lage, ihr Leben durch ihr Tagesbewusstsein eigenverantwortlich kontrollieren zu können. In einem Brief an den Pfarrer, der den Exorzismus durchführte, schreibt sie:
”Ich heulte oft abends für mich … Von Gott fühlte ich mich irgendwie total verlassen. Damals war ich schon ziemlich umsessen. Ich wollte mich immer umbringen. Dortmals hatte ich höllische Angst, wahnsinnig zu werden vor Verzweiflung…”
In dieser Zeit (1964) wechselt Anneliese von der Volksschule in ihrem Heimatort Klingenberg an das Gymnasium in Aschaffenburg. Der Kontakt mit einer Außenwelt, die sich um Gott, Jesus und die Heiligen wenig kümmert, die nicht in Angst vor der ewigen Verdammnis lebt, sondern den Aufbruch der 60er Jahre spürt und mit Leben erfüllt, verunsichern das Mädchen. Der AP aspektiert das Stellium im Sextil, Uranus im Trigon und die Pluto/Mondknoten-Opposition im Quadrat und „zündet“ die Doppelte Ambivalenzfigur an, die das Aspektbild dominiert. Die spitzenscharfen Planetenstellungen des Vierecks deuten auf eine starke Prägung durch das erziehende Milieu. Die Opposition zwischen Pluto und aufsteigendem Mondknoten ist die Basis für ein harmonieorientiertes Ambivalenzdreieck (blaue Seite) und ein rotes Leistungsdreieck. Das Viereck ist statisch und zeigt einen zuverlässigen Menschen, der jedoch ein „Doppelleben“ führt: auf der einen Seite ist er ein Leistungsmensch (Quadrate), auf der anderen ein Genießer-Typ (blaue Aspekte). Er pendelt zwischen Leistung und Entspannung und wirkt auf andere und manchmal auch auf sich selbst widersprüchlich.
Pluto ist das Bild des „höheren Selbst“, die Vorstellung, wer man eines Tages sein möchte, oder wer man im Kern seines Wesens in Wahrheit ist. Pluto im Stressbereich der 12. Hausspitze ist Kennzeichen einer tiefen Religiosität und gleichzeitig des unbedingten, kompensatorischen Willens, sich mit seinem Ursprung, mit Gott zu verbinden. Dazu könnte eine außergewöhnliche, einzigartige geistige (spirituelle) Karriere verhelfen. Am absteigenden Mondknoten ist dieser Wille jedoch Ausdruck einer verhärteten Ich-Kraft, die sich in Opposition zum aufsteigenden Mondknoten der geistigen Weiterentwicklung massiv widersetzt, sie sperrt und verdrängt. Jupiter an der Spitze des roten Leistungsdreiecks wagt die Flucht nach vorn, auf der 9. Hausspitze den großen Sprung in religiöse Anschauungen. Er möchte hier besondere Leistungen vollbringen, die gleichermaßen den aufsteigenden wie auch den absteigenden Mondknoten anregen. Es wird viel getan (sprich viel gebetet), doch der Aktionismus ist oft blind für das, was wirklich vorwärts bringt in der geistigen Entwicklung und nährt so die Qualität des absteigenden Mondknotens. Das Stellium aus Saturn, Mond, Venus und Neptun an der 2. Hausspitze fordert gleichzeitig „bequeme“ Lösungen, die die innere Sicherheit nicht gefährden dürfen. Der AP im Quadrat zu Pluto und der Mondknotenachse muss mit 12 Jahren massiv an diesem engen und widersprüchlichen Weltbild gerüttelt haben. Das konnten für das junge Mädchen nur teuflische Einflüsse sein, die es mit aller Macht abzuwehren galt.
Innere Widerstände gegen die rigiden katholischen Normen sind für ein pubertierendes Mädchen eigentlich normal, sie mussten jedoch aus religiösen Motiven heraus unterdrückt und verdrängt werden, um sich und den Eltern weiter eine heile Welt vorgaukeln zu können. Der Preis ist eine zunehmende Verselbständigung dieser inneren Widerstände. Dass der strenge katholische Gott ihrer Kindheit ihr nicht dabei hilft, ihre eigene innere Mitte zu finden und ein glücklicher junger Mensch zu werden, ergibt sich zwangsläufig daraus, dass dieser kirchliche Gott weder für Zweifel an ihm Verständnis hat noch für evtl. ”Sünden” aus jugendlichem Übermut, die bei einem Jugendlichen in der Sturm-und-Drang-Zeit seines Lebens ganz natürlich sind.
1967, mit 15 Jahren, kreuzen sich der Radix- und der Mondknoten-AP (K1 auf 6° Schütze). Anneliese wird sich zunehmend des Widerspruchs bewusst zwischen der Welt draußen in der Stadt, die immer mehr aus den Fugen zu geraten droht, und dem behüteten Zuhause, in dem Gehorsam gegenüber elterlichen und kirchlichen Geboten an erster Stelle steht und Sicherheit verspricht. Doch Anneliese wagt nicht den Sprung in diese neue Welt.
Im Mondknotenhoroskop, dem „karmischen Resonanzkörper“, ist das Aspektbild wesentlich reduzierter als in der Radix und füllt hauptsächlich die rechte Horoskophälfte aus. Ihr Unbewusstes ist damit wesentlich mehr DU-orientiert, als die Radix hätte vermuten lassen. Jupiter, Pluto und das Stellium stehen wie in der Radix an Hausspitzen. Sie wurden in erster Linie von Umwelteinflüssen geprägt und weniger vom inneren Zugang zur spirituellen Wirklichkeit des inneren Kreises, wie es eine Stellung am Talpunkt nahelegen würde. In der Radix stehen diese Planeten in Aspekt zum aufsteigenden Mondknoten und sollen dazu genutzt werden, dessen Anreize zur geistigen Weiterentwicklung zu nutzen. Im Wassermann soll im Denken Ordnung geschaffen werden (fixe Luft). Über Konflikte gilt es tiefgründig nachzudenken, um zu einer klaren Konzeption zu gelangen. Es soll eine bessere, ideale Ordnung hergestellt werden. Eine tolerante, leidenschaftslose Sicht auf den Menschen unterstützt diesen Prozess. Auf der 6. Hausspitze gilt es, sich der Realität, der irdischen Existenz mit all ihren Konflikten zu stellen durch persönlichen Einsatz, Hingabe, und Arbeit an seinen eigenen Fähigkeiten der Existenzbewältigung. Es wäre für Anneliese Michel darum gegangen, ein neues Verhältnis zwischen irdischer (6. Haus) und geistiger (12. Haus) Existenz zu finden. Genau das geschah jedoch nicht, Pluto am absteigenden Mondknoten war zu mächtig und betonte den Weg der Stagnation.
Als Anneliese zu Hause von den Rauschgiftabhängigen am Aschaffenburger Bahnhof erzählt, die man retten könne, wenn man für sie bete und etwas für sie tue, wehrt der Vater ab und verbietet ihr, solche Gedanken zu denken, denn „sie sei nicht so fest und das sei für sie nicht gut“². Anneliese betet trotzdem für die „Haschbrüder“, schläft sogar drei Jahre lang als Bußübung auf dem Fußboden. Sinnvoller wäre sowohl für sie als auch die jungen Menschen am Bahnhof gewesen, wenn ihre Hilfe sich mehr irdischer Methoden bedient hätte, wie sie im 6. Haus erlernt werden, und nicht „geistiger Ressourcen“, die das 12. Haus anbietet. Diese Situation ist typisch für die Opposition von Pluto und aufsteigendem Mondknoten auf der Existenzachse. Jupiters Lösungsansatz – „viel beten“ – war zu kurz gegriffen.
Anneliese traut sich den radikalen Protest gegen ihr Elternhaus offensichtlich nicht zu. Sie versucht es mit stillem Ungehorsam, bleibt jedoch im engen Weltbild der Eltern verhaftet, das für sie zu klein wird. Ob der erste Krampfanfall im September 1968 ein Symptom der „steckengebliebenen Revolte“ war? Uranus lief in dieser Zeit über ihre Sonne, während Pluto den Aszendenten überquerte. Die geistigen Planeten riefen förmlich nach Umkehr, nach wahrer Buße, die im Grunde fordert, falsche Ich-Ansprüche und zur Schau gestellte Frömmigkeit abzulegen, um wahrhaft bescheiden zu werden. In der Nacht zum 25. August 1969 wiederholt sich der Krampfanfall. Der Arzt verordnet ein Epilepsie-Medikament, das Anneliese jedoch nach drei Monaten ohne Rücksprache mit dem Arzt wieder absetzt. Im Februar 1970 tritt sie aufgrund einer Tuberkulose-Erkrankung eine sechsmonatige Kur in einer Lungenheilklinik an und erleidet dort wieder einen kleinen epileptischen Anfall. Den Ärzten erzählte sie bei der Aufnahme in die Klinik nichts vom Epilepsie-Verdacht.
Während des langen Klinikaufenthaltes macht sich die Siebzehnjährige Gedanken über ihre Zukunft. Ihre Zukunft sieht sie im Schoß der katholischen Kirche. Sollte sie das Abitur schaffen, will sie Lehrerin werden. Schafft sie es nicht, will sie Katechetin (Religionslehrerin) werden. Dies hatte sie im Gebet „mit der Muttergottes ausgemacht“, sich dabei der göttlichen Fügung überlassend.²
Zurück in Klingenberg muss sie erkennen, dass sich nichts verändert und sie weiterhin von Versagensängsten und Suizidgedanken geplagt wird. Aufgrund des langen Klinikaufenthaltes wurde sie nicht in die nächste Klassenstufe versetzt und musste das Jahr wiederholen. Sie war nun zwei Jahre älter als die anderen Schüler und fühlte sich zunehmend isoliert. Gerne hätte sie in den nächsten Sommerferien an einer Ferienfreizeit für Jugendliche teilgenommen, doch die Eltern hätten dies nicht erlaubt. Sie entschied sich deshalb im Sommer 1972 für einen Ferienjob im Krankenhaus. Die Mutter versucht, ihr diese Idee auszureden, weil sie ihre Tochter für zu wenig belastbar hält, doch Anneliese setzt sich durch (AP-Ingress Steinbock). Tatsächlich ist sie der ungewohnten Arbeitsbelastung jedoch nicht gewachsen und muss erkennen, dass ihre Pläne gescheitert sind. Am Ende dieses Sommers sitzt sie wegen erneuter epileptischer Anfälle in der Praxis ihres Nervenarztes.
Anneliese ist inzwischen 20 Jahre alt. Sie wurde seit ihrer Kindheit immer wieder von Krankheiten befallen. Doch die Ursache der immer wieder auftretenden Krampfanfälle konnte vom behandelnden Nervenarzt nicht eindeutig als Epilepsie diagnostiziert werden, denn das EEG war immer unauffällig. Dennoch verordnete er ein Epilepsie-Medikament, welches Anneliese jedoch nicht regelmäßig eingenommen hat. In ihrem letzten Schuljahr verschlechtert sich Annelieses Zustand massiv. Das Abitur fordert höchste Kraftanstrengungen.
Der Teufel
Nach der bestandenen Abiturprüfung (8. Juni 1973) schickt der Vater seine vier Töchter auf eine Pilgerfahrt nach San Damiano im Norden Italiens. Den Ort hatte er im Frühjahr besucht, um sich von der Heilkraft der dortigen Quelle zu überzeugen. Die Muttergottes, an die sich Anneliese in ihren Gebeten immer wieder gewandt hatte, soll dort erschienen sein. Als die Töchter nach Hause zurückkehren, wendet sich die Leiterin der Pilgerfahrt, Thea Hein, an die Eltern und äußert den Verdacht, Anneliese könnte vom Teufel besessen sein. Sie benahm sich am Pilgerort höchst seltsam, verweigerte das Wasser aus der Heilquelle als nicht trinkbar, weil es zu sehr stinke. Eine wundertätige Medaille will sie Frau Hein am liebsten vom Hals reißen, weil sie sonst nicht mehr atmen könne. Dabei zittert sie und verkrampft sich. Als die Leiterin den Teufel als Ursache vermutet, richtet sie ihren Rosenkranz auf Anneliese und beschwört sie „im Namen der Dreifaltigkeit“, die Medaille loszulassen. Anneliese kann jedoch nicht loslassen. Später führt Thea Hein ein seelsorgerliches Gespräch mit Anneliese, die bekennt: „Ich bin nicht ich selbst. Ich kann nicht machen, was ich will.“ Sie spricht offen über ihre Schuldgefühle: „Ich habe schwer gegen Gott und die Liebe gesündigt. Oh, wenn Sie wüssten, was ich gegen Gott getan habe“. Die Leiterin empfiehlt ihr die vollständige Beichte, doch Anneliese kann nicht beichten. Wenn sie beten will, „stehen mehrere Teufel um mich herum“.
Der Radix-AP steht in dieser entscheidenden Zeit in Konjunktion mit Chiron, der Mondknoten-AP im Sextil zu Chiron. Der Asteroid ist im 4. Haus auf 6° Steinbock vom restlichen Aspektbild losgelöst. Doch da beide Alterspunkte den „verwundeten Heiler“ ins Bewusstsein heben, könnte es mit Chiron in diesem Horoskop eine besondere Bewandtnis haben. Sehr häufig konzentrieren sich Astrologen in ihrer Deutung Chirons auf das Thema Verletzung, Verwundung und Ausgrenzung. Es gibt jedoch auch eine andere, aus meiner Sicht wichtigere Seite Chirons: er ist im Mythos Vorbild („der Beste“ seiner Gattung der Kentauren). Er ist Lehrer vieler Heldenfiguren. Heute würde man ihn einen Coach nennen, der durch seine Herkunft Zugang sowohl zu den Menschen als auch zu den Göttern hatte. Und Chiron war ein Außenseiter. Jesus Christus besitzt einige Parallelen zum Chiron-Mythos, der heutzutage vor allem für seine Kreuzigung, sein Leiden und seine Schmerzen verehrt wird, so dass seine eigentliche Botschaft der bedingungslosen Nächstenliebe in den Hintergrund getreten ist. Dies ist jedoch nur eine Hälfte der Ganzheit Chiron und Jesus Christus. Möglicherweise hätte Anneliese spätestens mit dem bestandenen Abitur sich von ihrer Familie abnabeln und wie Jesus „in die Wüste“ oder wie Chiron „in eine Höhle“ zurückziehen müssen, um dort in der Stille (ohne Einflüsterungen der Außenwelt) den wahren Christus zu finden. Chirons Umlaufbahn um die Sonne verbindet die Bahnen des Saturn mit der des Uranus. Er ist die Brücke, die die alte mit der neuen Ordnung verbindet.
Doch Anneliese befindet sich inzwischen in einem hoffnungslosen Zustand. In Thea Heins „Diagnose“ konnte sie sich besser wiederfinden als im Epilepsie-Verdacht ihres Nervenarztes. Im September 1973 wird sie ihn ein letztes Mal aufsuchen und über Schlafstörungen, mangelndes Interesse und fehlende Entscheidungskraft berichten. Aber auch von Fratzen, die sie öfter sehe und dass der Teufel in ihr sei. Der Mediziner hat den Verdacht einer beginnenden paranoiden Psychose, doch Anneliese fühlt sich von ihm missverstanden und erkennt, dass er ihr nicht helfen kann. Sie sucht seine Sprechstunde nicht mehr auf und geht nach Würzburg, um dort ihr Studium der Religionspädagogik aufzunehmen. Der Biograph Udo Wolff sieht diesen letzten Arztbesuch als Schlüsselmoment für das Verhängnis, das nun seinen Lauf nehmen und dem sich niemand in den Weg stellen wird. „Nur ein Psychologe, der auch offen ist für eine religiöse Sicht des Menschen, hätte Anneliese vielleicht helfen und sie vor dem nun beginnenden Weg in den Tod bewahren können.“2
Auch die Eltern sind inzwischen von der Besessenheit ihrer ältesten Tochter überzeugt. Jedes ungewöhnliche Geräusch, jeder unangenehme Geruch, jedes kleine Vorkommnis könnte seine Ursache in der Besessenheit der Tochter haben, denn jetzt lebt ja der leibhaftige Teufel im Hause Michel! Die Eltern beten verzweifelt den Rosenkranz, suchen Hilfe bei diversen Priestern. Thea Hein nimmt Ende Juli 1973 Kontakt zu Pater Adolf Rodewyk auf, dessen Buch „Dämonische Besessenheit heute“ sie beeindruckt hatte und schildert ihm Annelieses Fall. Natürlich hat er einen „begründeten Verdacht auf Besessenheit“. So beginnt das Denk-Karussell, in dem sich Anneliese, die Familie Michel und nicht zuletzt Thea Hein inzwischen befinden, immer schneller um die Idee der Besessenheit Annelieses zu drehen. Eine Irrfahrt in der katholischen Geisterbahn, die geradewegs in den Abgrund führen wird.
In Würzburg sucht Anneliese erneut ärztlichen Rat. Eltern und Priester legen ihr immer wieder nahe, dies zu tun. Vielleicht findet sich ja doch noch eine andere Ursache für Annelieses Ängste, Depressionen und Wahnvorstellungen. Im EEG finden sich nun tatsächlich Hinweise auf eine Epilepsie. Doch inzwischen glaubt Anneliese und ihre Familie, dies sei eine Folge des Epilepsiemedikaments, das sie eingenommen hatte. Auch gruppentherapeutische Sitzungen, an denen Anneliese einige Male teilgenommen hat, bricht sie ab: „Das ist nichts für mich. Ich bin doch nicht verrückt!“ In der Therapie werden vor allem verdrängte Aspekte der Sexualität und der Familiengeschichte behandelt. Dem Thema weicht Anneliese konsequent aus und flüchtet sich in religiöse Deutungen ihrer Probleme. Vor einem neuerlichen Krankenhausaufenthalt entwickelt sie eine regelrechte Phobie. Vor allem der Gedanke, als verrückt abgestempelt in der Psychiatrie zu landen, ist für sie unerträglich. Die Diagnose Besessenheit ist für Anneliese und ihre Familie offenbar akzeptabler, vielleicht sogar „attraktiver“, als eine zwar unheilbare, aber dennoch therapierbare neurologische Krankheit. „Heilung“ wird schließlich in einem katholischen Exorzismus gesucht.
Der Exorzismus
Exorzismen haben eine Jahrtausende alte Tradition. Dämonen werden dabei durch Beschwörungsrituale ausgetrieben. Voraussetzung ist eine Besessenheit. Der katholische Exorzismus beruft sich auf die Heilige Schrift, die Jesus immer wieder als Heiler der Kranken und Besessenen beschreibt. Er war ein Dämonenaustreiber. Was verstanden die Menschen damals unter Besessenheit? Liest man sich die Bibel durch, müssen damals sehr viele Menschen unter Besessenheit gelitten haben. Die geschilderten Symptome ähneln oft Zuständen, die heute als psychische oder psychosomatische Krankheiten diagnostiziert werden.
In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) findet sich tatsächlich der Begriff der Besessenheit.
F44.3 Trance- und Besessenheitszustände
Bei diesen Störungen tritt ein zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auf; in einigen Fällen verhält sich der Mensch so, als ob er von einer anderen Persönlichkeit, einem Geist, einer Gottheit oder einer „Kraft“ beherrscht wird.
Hier sind nur Trancezustände zu klassifizieren, die unfreiwillig oder ungewollt sind, und die außerhalb von religiösen oder kulturell akzeptierten Situationen auftreten.
Hier dürfen keine Trancezustände diagnostiziert werden, die während schizophrener oder akuter Psychosen mit Halluzinationen oder Wahn oder im Rahmen einer multiplen Persönlichkeit auftreten. Diese Kategorie ist nicht zu verwenden, wenn der Trancezustand mit einer körperlichen Krankheit (wie etwa Temporallappenepilepsie oder einer Kopfverletzung) oder mit einer Intoxikation durch psychotrope Substanzen in Zusammenhang steht.
Es wird damit auch von der aufgeklärten Medizin die Besessenheit als Phänomen anerkannt, sofern es sich nicht um Symptome einer diagnostizierbaren Störung (Schizophrenie, Epilepsie, etc.) handelt. Da bei Anneliese Michel ein Epilepsieverdacht bestand, kann von einer medizinischen Ursache für ihre Wahnvorstellungen ausgegangen werden.
Was unterscheidet „echte“ Besessenheit von psychischen Störungen wie Hysterie, Schizophrenie, Paranoia oder einer Multiplen Persönlichkeitsstörung? In ihrem Rituale Romanum von 1614 nannte die katholische Kirche vor allem drei Kennzeichen:
„Ein wirklich Besessener kann
- mehrere Wörter in einer ihm fremden Sprache sprechen oder jemanden verstehen, der sie spricht;
- Entferntes und Verborgenes offenbaren; und
- Kräfte zeigen, die über sein Alter und seine körperliche Konstitution hinausgehen.“
Aus dem Katechismus der Katholischen Kirche:
1673 Wenn die Kirche öffentlich und autoritativ im Namen Jesu Christi darum betet, dass eine Person oder ein Gegenstand vor der Macht des bösen Feindes beschützt und seiner Herrschaft entrissen wird, spricht man von einem Exorzismus. Jesus hat solche Gebete vollzogen [Vgl. Mk 1,25—26]; von ihm hat die Kirche Vollmacht und Auftrag, Exorzismen vorzunehmen [Vgl. Mk 3,15; 6,7.13; 16,17.]. In einfacher Form wird der Exorzismus bei der Feier der Taufe vollzogen. Der feierliche, so genannte Große Exorzismus darf nur von einem Priester und nur mit Erlaubnis des Bischofs vorgenommen werden. Man muss dabei klug vorgehen und sich streng an die von der Kirche aufgestellten Regeln halten. Der Exorzismus dient dazu, Dämonen auszutreiben oder vom Einfluss von Dämonen zu befreien und zwar kraft der geistigen Autorität, die Jesus seiner Kirche anvertraut hat. Etwas ganz anderes sind Krankheiten, vor allem psychischer Art; solche zu behandeln ist Sache der ärztlichen Heilkunde. Folglich ist es wichtig, dass man, bevor man einen Exorzismus feiert, sich Gewissheit darüber verschafft, dass es sich wirklich um die Gegenwart des bösen Feindes und nicht um eine Krankheit handelt.
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Die katholischen Priester jedoch, die von Thea Hein und den Eltern zu Annelieses Problemen befragt wurden, ignorierten den Verdacht auf eine Erkrankung an Epilepsie.
Im Verlauf des katholischen Exorzismus werden nach einem festgelegten Ritual eine ganze Reihe von Gebeten, Orationen, Versikeln und kultischen Handlungen von einem dazu befugten Priester in Gegenwart der Besessenen durchgeführt. Mit ihnen soll der Dämon zum Verlassen des Körpers gezwungen werden. Anneliese Michel wurde am 1. Juli 1975 einem ersten Probeexorzismus unterzogen, dem Anfang August ein kleinerer Exorzismus folgte, nachdem der durchführende Pfarrer Alt zwar eine Einweisung in eine Nervenklinik empfahl, was Anneliese und ihre Eltern jedoch ablehnten. Im September 1975 ordnete Bischof Stangl schließlich den Großen Exorzismus nach dem Rituale Romanum an, dessen erste Sitzung am 24. September 1975 im Hause Michel in Klingenberg stattfand. In jenem Sommer stand der Radix-AP in Opposition zum Uranus und im Quadrat zum Stellium auf der 2. Hausspitze. Es wurde im Grunde versucht, Annelieses Uranus auszutreiben! Er hatte keinen Platz in der Welt der Familie Michel, er wurde ausgesperrt (Opposition als Sperr-Aspekt). Er war das personifizierte Böse. Dabei wäre er für Anneliese aus astrologischer Sicht die Rettung gewesen.
Bis zu Annelieses Tod am 1. Juli 1976 fanden 67 solcher Exorzismus-Sitzungen statt, in deren Verlauf sich ihr körperlicher und seelischer Zustand zusehends verschlechterte. Die Fastenzeit ab Aschermittwoch 1976 nahm sie so ernst, dass sie die Nahrungsaufnahme gänzlich verweigerte (AP-Quadrat Venus). In einer Vision schaute sie Jesus Christus, dem sie als ihrem himmlischen Bräutigam Treue bis in den Tod schwor. In der Karwoche (April 1976) erlebt sie die Leidensstationen Christi nach. Der AP steht nun im Quincunx zu Pluto, dem Ideal des göttlichen Menschen. Die Sehnsucht nach Gott wird ungemein intensiv und immer zwanghafter.
Der Tod
In der Nacht ihres Todes lief der Mond über Pluto am absteigenden Mondknoten und aktualisierte ein letztes Mal dieses herausfordernde Thema. Transit-Merkur stand im Sextil dazu. Transit-Jupiter kehrte zum zweiten Mal an seine Radixstelle zurück und wiederholte das Leistungsdreieck zur Mondknotenachse mit Pluto. Ob all das Beten sie erlösen konnte? Als der Transit-Mond exakt auf dem Radix-Pluto stand, ging im Osten gerade Merkur auf, der Herrscher ihres Geburts-Aszendenten, und gegenüber das Galaktische Zentrum unter. Es ist gut möglich, dass dies der Moment ihres Todes war.
Im späteren Prozess wurden die Eltern und die beiden Priester, die den Exorzismus durchführten, jeweils zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Gericht warf ihnen vor, sie hätten für medizinische Hilfe sorgen und einen Arzt hinzuziehen müssen. Zugunsten der Angeklagten sah das Gericht eine erhebliche Verminderung der Einsichtsfähigkeit, da diese „unumstößlich an die personale Existenz des Teufels glaubten“, was zu einer verminderten Schuldfähigkeit geführt habe. Zur Frage einer Besessenheit Anneliese Michels äußerte sich das Gericht in der schriftlichen Urteilsfassung nicht.
1 Die Geburtsdaten (von der Mutter persönlich) fand ich vor rund fünfzehn Jahren auf einer deutschsprachigen Homepage, die inzwischen nicht mehr erreichbar ist.
2 Udo Wolff: Das bricht dem Bischof das Kreuz. rororo TB
© B. Braun (2017)