Die Mutter, das Seeungeheuer, der Held und Moby Dick

22. Aug 2011 – 19:25:59

Sternbild Cetus

Sternbild Cetus

Im antiken Babylonien sah man im Sternbild Cetus (Walfisch) ein Seeungeheuer, das als Erscheinung der Göttin Tiamat galt. Tiamat stellte das ursprüngliche kosmische weibliche Prinzip des „Salzwasserabgrundes“ dar und war der Gegenpart zu ihrem Gemahl Apzu, dem Prinzip des „Süßwasserozeans“.

Tiamat bedeutet „Sie, die sie alle gebar“, weil sie zusammen mit Apzu in den Urzeiten vor der Schöpfung die ersten Generationen von Göttern gezeugt hat. Sie ist eine Erscheinungsform der „Großen Mutter“ und des Mutter-Archetyps. Nachdem die jüngsten Götter, ihre Kindeskinder, die Großeltern Tiamat und Apzu mit ihrem Lärm und ihrem Treiben geweckt hatten, will Apzu die Ruhestörer vernichten. Nachdem er jedoch durch den Gott Ea/Enki getötet worden ist, schwört Tiamat Rache und verbündet sich mit ihrem Sohn Kingu, dem sie große Macht verleiht. Zusammen mit einer Armee von Ungeheuern will sie ihre Kindeskinder nun bekämpfen. Diese lassen Marduk, den Sohn von Ea, gegen sie kämpfen. Marduk tötet Kingu und besiegt auch Tiamat im Zweikampf, spaltet sie und bildet aus den zwei Hälften den Himmel und die Erde (Enûma elîsch).

Sternbild Cetus 1200 v. Chr.

Sternbild Cetus 1200 v. Chr.

Die frühen Griechen sahen in den Sternen des Sternbildes Cetus den Eingang zur Unterwelt. Vielleicht, weil das Sternbild im Zeitraum des 2. und 3. Jahrtausends vor Christus nicht nur unterhalb der Ekliptik sondern auch südlich des Himmelsäquators lag. Die Menschen des Altertums waren offenbar der Ansicht, dass nördlich, in Richtung des Nordpols, die Welt der Götter sei, während südlich das Reich der Dämonen und der Unterwelt liege.

andromeda

Andromeda, Perseus, Kassiopeia und Cetus

Später identifizierten die Griechen das Sternbild Walfisch als das Seeungeheuer im Zusammenhang mit der Sage um Andromeda. Die schöne Andromeda, Tochter des Königs Kepheus und der Kassiopeia, sollte dem Meeresungeheuer Keto (Ketos) geopfert werden. Kassiopeia hatte die Nereiden, die Töchter des Meeresgottes Nereus, beleidigt, indem sie behauptete, deren Schönheit noch zu übertreffen. Die Nereiden wandten sich an den Meeresgott Poseidon und verlangten die Bestrafung der eitlen Kassiopeia. Poseidon sandte daraufhin ein Seeungeheuer aus, Keto, das die Küsten von Kepheus´ Reich heimsuchte. Einem Orakelspruch zufolge konnte die Bestie nur besänftigt werden, indem ihr Andromeda, das einzige Kind des Königspaares, geopfert wurde. Andromeda wurde an einen Felsen gekettet und erwartete ihr Schicksal, wurde aber im letzten Moment durch den Helden Perseus gerettet, der das Untier tötete, indem er ihm das Haupt der Medusa entgegenhielt, worauf Keto versteinert im Meer versank. Zum Lohn dafür bekam er Andromeda zur Frau.

Der Mutterarchetyp steht für die im Unbewussten verankerte Vorstellung einer gebärenden, Schutz gewährenden Frau. Er hat jedoch auch ambivalente und negative Aspekte. Kennzeichnend für „das Mütterliche“ sind „das Gütige, Hegende, Pflegende, Tragende, das Wachstum, Fruchtbarkeit und Nahrung spendende“ Prinzip. Die Mutter ist unser Ursprung, ihr Körper ein Ort magischer Verwandlung (Schwangerschaft und Geburt). Das Mütterliche ist „das Geheime, Verborgene, das Finstere, der Abgrund, die Totenwelt“, uns mit hilfreichen Impulsen versorgend, aber auch das „Verschlingende, Verführende, Zerstörende, das Angst Erregende und Unentrinnbare“. Das Seeungeheuer ist in erster Linie Ausdruck der negativen Aspekte des Mutter-Archetyps, der wütenden Göttin Tiamat, die ihre Enkelkinder töten will, weil sie offenbar ein Gesetz übertreten haben. Oder der Keto, die in der Andromeda-Sage die Todsünde der Eitelkeit bestraft.

Immer taucht in diesen Geschichten ein Held auf: im babylonischen Mythos in der Gestalt des Gottes Marduk (das Pendant zum griechischen Zeus und römischen Jupiter), in der Andromeda-Sage als der Held Perseus. Der Archetyp des Helden verkörpert den wichtigen Entwicklungsschritt eines jeden Menschen, der sich vom weiblich-mütterlichen Urgrund (bzw. Abgrund, je nach Perspektive) emanzipieren muss im Zuge der Individuation, auf deren Weg wir werden sollen, der wir sind: unteilbar, individuell. Auf diesem Weg der Ganzwerdung ist das Seeungeheuer als Mutter-Archetyp in seiner negativen Ausdrucksform eine kritische Herausforderung, die der Held bestehen muss, damit seine Reise weitergehen kann. Nicht selten erlangt er durch den Sieg über das Seeungeheuer eine Kostbarkeit, manchmal sogar vom Grund des Meeres.

Moby Dick Erstveröffentlichung

Moby Dick Erstveröffentlichung

Moderne Ausgestaltungen dieses mythischen Motivs haben nicht immer ein Happy-End. Wer denkt beim Stichwort Wal nicht unwillkürlich an „Moby Dick“? In diesem Roman geht es um einen riesigen „Weißen Wal“ und den einbeinigen Kapitän Ahab des Walfangschiffes „Pequod“. Ahab jagt in geradezu blindem Hass den Pottwal, der ihm einst sein Bein abgerissen hatte. Herman Melville stellt diesen Wal nicht als das gutmütige Tier dar, das wir uns seit dem 20. Jahrhundert unter dieser imposanten, dennoch dressierbaren Spezies vorstellen, seitdem sie in Vergnügungsparks zur Schau gestellt wird. Für den Autor Herman Melville war Moby Dick ein Ausdruck des „Leviathan“. Dies ist der Name des Seeungeheuers in der jüdisch-christlichen Mythologie.

Im seinem Buch „Drachenkampf – Mythos des Bösen“ schreibt Uwe Steffen zum Roman Moby Dick:

leviathan„Die Bezeichnung »Leviathan« drückt die mythische Dimension des Wals aus, und Moby Dick ist Urbild und Inbegriff des Ungeheuren, Monströsen. In ihm begegnet dem Menschen das Abgründige der Natur, der Schrecken der Tiefe, das Numinose, das ihn erzittern macht und zugleich unwiderstehlich anzieht. (…)Für Kapitän Ahab, der nicht nur körperlich, sondern auch seelisch von dem weißen Wal verwundet worden war und ihn »tollkühn und unerbittlich versessen« über alle Weltmeere hinweg verfolgte, um sich an ihm zu rächen, ist er der »Todfeind«, »Inbegriff all der Quälereien des Leibes und der Seele, die er zu erdulden hatte«, Verkörperung »aller Schlechtigkeit auf Erden«. Ahab häuft in der Maßlosigkeit seines kranken Gemüts »den ganzen Groll und Hass des Menschengeschlechts von Adam her« auf den weißen Buckel des Wals.“

Moby Dick

Moby Dick

Mein Astrologenherz schlägt höher, denn die Geburtsdaten von Herman Melville sind überliefert. Melville begann im Frühjahr 1850 mit den Arbeiten an „Moby Dick“. Zwei Jahre zuvor war Neptun (Poseidon) endgültig in das Tierkreiszeichen Fische gewechselt, wie er dies auch im kommenden Winter wieder tun wird. Die Erstveröffentlichung des „Moby Dick“ war am 18. Oktober 1851 in London. Mit der Software Stellarium habe ich den Westhimmel unmittelbar vor Sonnenaufgang in der Grafik links dargestellt. Wir sehen das Sternbild Cetus, den Walfisch, im Westen untergehen, mit dem Planeten Pluto im Rachen. Die Saturn/Uranus-Konjunktion befindet sich am Kopf des Drachen.

Herman Melville

Herman Melville

In Herman Melvilles Horoskop ging das Sternbild Walfisch zum Zeitpunkt seiner Geburt gerade im Osten auf. Er hatte eine Saturn/Pluto-Konjunktion im Schwanz des Walfisches. Die Saturn/Chiron/Pluto auf dem Sternbild Walfisch zeigt den unerbittlichen Kampf des tragischen, düsteren „Helden“ Ahab (Saturn/Chiron/Pluto) mit dem Seeungeheuer, der schlussendlich im letzten, großen Kampf von Moby Dick in den Meeresabgrund gerissen wird. Aus psychologischer Sicht wurde das Ziel der Individuation verfehlt, Ahab ist wieder mit der Großen Mutter, dem Ozean, verschmolzen.

Herman Melville

Herman Melville

Während meiner Recherchen zum Sternbild Walfisch und den dazu gehörenden Mythen, Sagen und Erzählungen stieß ich u.a. auf einen neu entdeckten Himmelskörper jenseits der Neptun-Bahn mit dem Namen Ceto, benannt nach eben dem Seeungeheuer Keto aus der Andromeda-Sage. Cetos Bahn um die Sonne ist äußerst exzentrisch, was sie zu einer Art Kentaur macht wie Chiron, Nessus und Pholus. Zeitweise berührt Ceto fast die Uranus-Bahn, während ihr sonnenfernster Punkt sehr, sehr weit draußen im All ist. Sie hat eine Umlaufzeit um die Sonne von 998 Jahren, um die Erde von etwas über 1000 Jahren. Sie befindet sich in Herman Melvilles Geburtshoroskop auf 6°47′ Fische. Am Tag der Ersterscheinung seines bekanntesten Werkes Moby Dick befand sich Transit-Neptun (das römische Pendant des griechischen Meeresgottes Poseidon) auf 6°44′ Fische in exakter Konjunktion mit Ceto.

Herman Melville Transite

Herman Melville Transite

Die in der Astrologie-Software Astroplus verfügbare Ceto-Ephemeride reicht von Januar 1500 bis ca. 2100. Allein im Zeichen Fische befand sich Ceto 159 Jahre, nämlich von 1762 bis 1921.

Mark Andrew Holmes hat sich einige astrologische Gedanken über Ceto gemacht und sogar ein Planetensymbol kreiert.

Wer Ceto in seine Horoskope einfügen möchte, kann dies beim Astrodienst tun. Cetos Nummer ist 65489.

Es gäbe noch viel zu schreiben über dieses „Ungeheuer des Meeres“. Die biblische Geschichte von Jonas und dem Wal habe ich noch gar nicht erwähnt. Vielleicht ein anderes Mal…

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