Vor 120 Jahren* starb Swami Vivekānanda in der indischen Klosteranlage Belur Math in Haora, einer Nachbarstadt seiner Geburtsstadt Kalkutta, dem heutigen Kolkata. Es war der 29. Mond-Tag bzw. das 14. Tithi Chaturdashi Krishna Paksha (abnehmende Mondphase) im hinduistischen Monat Āshādha, der dem Sonnen-Transit durch das Tierkreiszeichen Krebs entspricht. Über das Potential dieses Tages schrieb ich:
… wenn in der balsamischen Mondphase die Mondsichel ins Nichts zu verschwinden scheint, ist ein guter Tag für all jene Dinge, von denen wir uns endgültig befreien möchten oder müssen.1
Gleichzeitig findet im Monat Āshādha jedes Jahr das Vollmondfest Guru Purnima statt, an dem die Menschen ihrer spirituellen Lehrer (Guru) gedenken und Opfer darbringen. Da sich Vivekānanda zwei Stunden vor seinem Tod von seinen Schülern zur Meditation zurückgezogen hatte, feiern seine Anhänger in diesem Jahr den 120. Jahrestag seines Mahāsamādhi – der Bewusstseinszustand, in dem das Selbst eine besondere Erfahrung auf der Ebene des Überbewussten erlebt, in der das individuelle schauende Selbst mit dem Absoluten, dem universalen Selbst, verschmilzt und sich darin auflöst – das Ende des diskursiven Denkens des Ichs in der Einheit mit dem göttlichen Absoluten und gleichzeitig das Ende des sich ansonsten ewig drehenden Lebensrades Samsara, des Zyklus der Wiedergeburten. Stirbt ein Mensch im Zustand des Samādhi, so bleibt er auch nach dem Tod seines physischen Körpers untrennbar mit dem Absoluten verschmolzen.
Horoskop des Todes
Zum Zeitpunkt des Todes wanderte der Aszendent soeben in das Zeichen Fische, der erlösenden Rückkehr in des „Vaters Haus“. Der klassische Herrscher Jupiter im 12. Zeichen und Haus betont die große Wandlung des Ich zum Selbst und seines Einswerdens mit dem universalen Selbst. Jupiter steht im Trigon zum esoterischen Herrscher der Fische Pluto und im Sextil zu Uranus, der schöpferischen Intelligenz. Gleichzeitig bildet der Aszendent ein Trigon zum aufsteigenden Mondknoten, weitere Trigon-Aspekte zu einem Stellium des neuen Herrschers Neptun mit Mond, Merkur und dem Zwergplaneten Ceres sowie ein Quincunx zum supergalaktischen Zentrum M87, die ich an anderer Stelle auch als Christus-Galaxie bezeichnete, da sie jeweils eine markante Position zum Zeitpunkt der vermutlichen Zeugung und der Kreuzigung und Auferstehung des Jesus von Nazareth hatte. Vivekānandas Guru Ramakrishna hatte sich neben der hinduistischen Gottesvorstellung auch mit dem Islam und dem Christentum auf intensive und visionäre Art und Weise auseinandergesetzt und erkannte und lehrte seinen Schülern die grundlegende Einheit dieser Weltreligionen, die alle zu Gott, dem Absoluten führen können. M87 steht zudem im Quadrat zu Neptun und Ceres. Vivekānandas Geburtsherrscher Saturn wiederum steht im Quadrat zu den galaktischen Zentren Andromeda M31 und Shapley-Zentrum SCl.
Raja Yoga
Samādhi ist die achte und höchste Stufe des Raja Yoga. Sie entspricht einer inneren Erfahrung des Individuums, die in der Humanistischen Psychologie auch als „Gipfelerlebnis“ (peak experience) bekannt ist. Die Methoden des Raja Yoga ermöglichen es jedem Einzelnen, der sich dieser intensiven inneren Schulung unterzieht, den inneren „Gipfel“ des Bewusstseins zu erreichen. Samādhi ist der Zustand des Überbewussten, die Verwirklichung oder unmittelbare Erfahrung des transpersonalen „schauenden“ Selbst.
Swami Vivekānanda schrieb im Frühjahr 1895 während des ersten Kreuzungspunkts (K1) der beiden Alterspunkte das Buch Raja Yoga, in dem er das Yogasutra des Patañjali niederschrieb und kommentierte. Im siebten Kapitel Dhyana und Samadhi beschreibt er zwei Ebenen, auf denen sich das Bewusstsein abspiele: eine bewusste Ebene, deren Tätigkeiten stets mit einem Ichgefühl verbunden sind, und eine unbewusste Ebene, auf der jede Tätigkeit ohne die Beteiligung des Ichs stattfindet. Diese unbewussten Aktivitäten umfassen zum Beispiel angeborene Reflexe und Instinkte, die ohne Ichbeteiligung stattfinden.
Dies ist aber nicht alles. Es gibt eine noch höhere Ebene, auf der die Denksubstanz (citta) wirksam sein kann. Sie kann das Bewusstsein überschreiten. So wie die unbewusste Tätigkeit sich unterhalb des Bewusstseins vollzieht, gibt es eine Tätigkeit, die sich oberhalb des Bewusstseins vollzieht und gleichfalls nicht von Ichgefühl begleitet ist. Ichgefühl gibt es nur auf der mittleren Ebene. Wenn die Denksubstanz sich ober- oder unterhalb dieser Linie befindet, gibt es kein Gefühl eines „Ich“, und doch arbeitet die Denksubstanz. Überschreitet sie diese Linie des Selbst-Bewusstseins, so wird dies samādhi – Überbewusstsein – genannt.2
Diese Dreiteilung erinnert unmittelbar an die Konstitutionsmodelle der Psychosynthese und der Astrologischen Psychologie. Das Ich als Zentrum des gegenwärtigen Bewusstseinsfeldes liegt in der Mitte zwischen dem Unterbewusstsein (tieferes Unbewusstes) und dem Überbewusstsein (höheres Unbewusstes). In der Schicht des Überbewusstseins findet Samādhi statt.
Hier ist jedoch, folgen wir den Ausführungen Vivekānandas, keine Beteiligung des Ichs möglich. Das heißt, nicht das Ich erlebt diese Erfahrung, sondern eine andere Instanz innerhalb der Psyche. Wir erfahren mehr über den Wahrnehmungs- und Denkmechanismus in den ersten beiden Sutren:
1. Sutra: „Jetzt wird Konzentration erklärt.“
2. Sutra: „Yoga ist die Unterdrückung der Funktionen (vṛtti) der Denksubstanz (citta).“2
Die „Denksubstanz“ citta entspricht offenbar dem Vorgang des Denkens und Reflektierens innerhalb des Denkorgans des Geistes manas:
Das Denkorgan (manas) leitet die Empfindung weiter und übermittelt sie dem bestimmenden Vermögen (buddhi), das darauf reagiert. Gleichzeitig mit dieser Reaktion blitzt das Ichgefühl auf. Danach wird diese Verbindung von Aktion und Reaktion der wahren Seele (puruṣa) dargeboten, die einen Gegenstand in dieser Verbindung wahrnimmt. Die Sinnesorgane (indriya) zusammen mit dem Denkorgan (manas), dem bestimmenden Vermögen (buddhi) und dem Ichprinzip (ahaṃkara) bilden die Gruppe der inneren Werkzeuge (antaḥkarana). Diese sind nichts als verschiedenartige Prozesse innerhalb der Denksubstanz (citta). Die Denkwellen im citta heißen vṛtti (wörtlich: Strudel). Was ist ein Gedanke? Eine Kraft wie die Schwerkraft oder die Kraft der Abstoßung. Aus dem ungeheuren Kräftespeicher der Natur ergreift das Instrument, citta genannt, einen Teil jener Kräfte, zieht sie in sich hinein und sendet sie als Gedanken wieder aus.2
Denkorgan und Denksubstanz Manas + Citta entsprechen in der indischen Astrologie dem Mond, die wahre Seele Purusha der Sonne, die Sinnesorgane den fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Die Astrologische Psychologie arbeitet mit dem dreifältigen Ich-Modell aus Sonne = denkendes Ich, Mond als fühlendes Ich und Saturn als physisch-ätherisches Ich. Buddhi ordnete Bruno Huber in der Huberschen Amphora dem Planeten Neptun zu. Die Antahkarana verbindet in der Theosophie nach Alice Bailey das niedere Manas (Merkur + Sonne) mit dem höheren Manas (Uranus).
Die Denkwellen des Mondes vṛtti gilt es in der Meditation zu beherrschen. Den Gedanken gelassen zuzuschauen, wie sie kommen und gehen, ohne sich mit diesen zu identifizieren. Eines Tages könnten diese Gedanken die Grenze zum Überbewussten überschritten haben. Vivekānanda erläutert, wie wichtig es ist, darauf vorbereitet zu sein:
Der yogin lehrt, dass der Denksubstanz an sich eine höhere Daseinsform, ein überbewusster Zustand jenseits der Vernunft eigen sei, und dass dem Menschen diese die Vernunft übersteigende Erkenntnis zuteilwerde, sowie die Denksubstanz diesen höheren Zustand erreicht habe. Metaphysische und transzendentale Erkenntnisse werden einem solchen Menschen zuteil. Dieser Zustand des Überschreitens der Vernunft durch Transzendieren der gewöhnlichen menschlichen Natur überkommt vielleicht zufällig einen Menschen, der nichts davon versteht; er stolpert gleichsam darüber. Wenn dies zufällig geschieht, stellt er ihn meistens als von außen veranlasst hin. Das erklärt, wieso eine Inspiration oder transzendentale Erkenntnis in den verschiedenen Ländern die gleiche sein kann, in dem einen Lande aber von einem Engel herzurühren scheint, in einem anderen von einem Deva und in einem Dritten von Gott. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Denksubstanz die Erkenntnis aus sich selbst hervorbrachte, und dass der Einbruch der Erkenntnis je nach dem Glauben und Bildungsgrad des Menschen, der sie übermittelte, verschieden interpretiert wurde. In Wirklichkeit ist es so, dass diese verschiedenen Menschen gleichsam zufällig in diesen Zustand des Überbewussten gerieten.
Wir können während des Meditierens also zufällig in diesen Zustand geraten, in dem wir plötzlich alles vollkommen neu und überwältigend erfahren können. Mir passierte ähnliches tatsächlich „zufällig“ als Neunjährige. Nachdem ich monatelang autosuggestive Selbsthypnose einfach so im Spiel und aus Spaß in Gedanken wiederholte, spürte ich eines Tages plötzlich eine Veränderung. Ich schlug die Augen auf und stellte fest, dass ich die Körnung der Raufasertapete der Zimmerdecke direkt vor meinen Augen sehen konnte, als ob ich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt liege. Ich drehte mich um und sah meinen Körper anderthalb Meter weiter unten auf dem Bett liegen. Plötzlich „wusste“ ich, dass ich mich jetzt überall hinbewegen kann, einfach nur, weil ich das jetzt will. Ich war schon ganz aufgeregt, doch bevor ich mir ein Ziel überlegen konnte, fragte ich mich, wie ich nach meiner Reise wieder in den Körper zurückkommen könnte. Ich wusste ja nicht, wie das überhaupt passieren konnte, nicht in meinem Körper zu sein und ihn da unten auf dem Bett liegen zu sehen. Doch in dem Moment, in dem ich mir die Frage der Rückkehr stellte, war ich ruckzuck wieder in meinem Körper und sprang aus dem Bett. Leider weiß ich das genaue Datum nicht mehr, nur dass es ein sonniger Herbsttag des Jahres 1976 war. Seitdem kann ich mir sehr gut vorstellen, dass mir durch ausdauerndes Üben eigentlich nichts unmöglich sein sollte.
Dem yogin zufolge ist es sehr gefährlich, nur durch Zufall in diesen Zustand zu geraten. In sehr vielen Fällen besteht die Gefahr einer Geistesstörung. In der Regel werden Sie finden, dass alle die Menschen, mögen sie auch noch so bedeutend gewesen sein, die zufällig in diesen überbewussten Zustand gerieten, im Dunkel tappten und meistens einen wunderlichen Aberglauben mit ihrer Erkenntnis verbanden. Sie waren Halluzinationen zugänglich. Mohammed behauptete, der Engel Gabriel hätte ihn eines Tages in einer Höhle aufgesucht und ihn auf dem Himmelsross Harak mit sich genommen, und er hätte die Himmel besucht. Mit alledem sprach Mohammed einige wundervolle Wahrheiten aus. Wenn Sie den Koran lesen, werden Sie darin die wunderbarsten Wahrheiten mit Aberglauben vermischt finden. Wie ist das zu erklären? Dieser Mann war zweifellos inspiriert, aber er war gleichsam zufällig in diese Inspiration hineingeraten. Er war kein geschulter yogin, und die Gründe seines Handelns waren ihm fremd. Denken Sie an das Gute, das Mohammed der Welt getan hat, und denken Sie an den großen Schaden, der durch seinen Fanatismus angerichtet wurde!
Landet ein solcher Mensch heute beim Arzt, wird womöglich eine Psychose diagnostiziert. Der italienische Psychiater Roberto Assagioli versuchte, solche Zustände und Erfahrungen wissenschaftlich zu erforschen und zu behandeln.3 In einem Aufsatz über Spirituelle Entwicklung und neuro-psychische Störungen beschreibt Assagioli fünf kritische Stadien der spirituellen (geistigen) Entwicklung:
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- Die dem geistigen Erwachen vorangehenden Krisen.
- Die vom geistigen Erwachen hervorgerufenen Krisen.
- Die auf das geistige Erwachen folgenden Rückschläge.
- Die Stufen der geistigen Umwandlung.
- Die „dunkle Nacht der Seele“.
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Das „zufällige“ und deshalb unvorbereitete Überschreiten (Transzendieren) der Grenze zwischen Ich-Bewusstsein und Überbewusstsein kann unter Umständen eine seelische Krise auslösen:
Ist der Verstand zu schwach oder nicht genügend vorbereitet, um das geistige Licht zu ertragen, oder ist die Neigung zur Selbstüberhebung und zur Egozentrizität vorhanden, so kann das innere Ereignis falsch verstanden werden. Es entsteht (…) eine “Verwechslung der Ebenen“: der Unterschied zwischen absolut und relativ, zwischen Geist und Persönlichkeit wird nicht erkannt, und somit kann die geistige Kraft eine Überspanntheit, eine “Inflation” des persönlichen Ich hervorrufen.3
Ähnliches bestätigte bereits Swami Vivekānanda in seinem Kommentar zum Yogasutra des Patañjali:
So wird uns die Gefahr deutlich, wenn wir das Leben der großen Lehrer wie Mohammed oder anderer untersuchen. Doch bemerken wir zu gleicher Zeit, dass sie alle inspiriert waren. Sooft ein Prophet durch Steigerung seines Empfindungslebens in den Zustand des Überbewusstseins geriet, brachte er aus ihm nicht nur einige Wahrheiten zurück, sondern auch irgendeinen Fanatismus, irgendeinen Aberglauben, der der Welt ebenso viel schadete, wie die Größe der Lehre ihr nützte. Und aus der Fülle des Widersinns, den wir Menschenleben nennen, irgendeinen Sinn herauszufinden, müssen wir unsere Vernunft transzendieren. Wir müssen es aber auf wissenschaftliche Weise, allmählich, durch regelmäßiges Üben tun, und wir müssen uns von allem Aberglauben freimachen.2
Paulus Damaskus-Erlebnis – eine Samādhi-Erfahrung?
Paulus von Tarsus war ein gebildeter römischer Jude und verfolgte als gesetzestreuer Pharisäer die Anhänger Jesu Christi, dem er zu dessen Lebenszeit nie begegnet war. Seit seiner Vision des auferstandenen Jesus Christus im „Damaskuserlebnis“ (eine Samādhi-Erfahrung?) verstand er sich fortan als von Gott berufener Apostel des Evangeliums für die Völker, das er in vier Missionsreisen im Mittelmeerraum verbreitete. Seine Schriften spiegeln „seine“ persönliche Interpretation der Lehren Jesu Christi, die das heutige Selbstverständnis der christlichen Kirchen maßgeblich bestimmen. Jedem Christ steht es heute frei, diese mit den vier Evangelien des Neuen Testaments kritisch zu vergleichen, zum Beispiel Paulus Haltung gegenüber der Stellung der Frau, die bis heute in der katholischen Kirche offensichtlich weiterhin maßgeblich ist. Wenn der Klerus die Vernunft nicht transzendieren kann, sollte es nicht den Einzelnen daran hindern, diesen Schritt zu gehen.
* 4. Juli 1902 um 21.10 Uhr
Literatur:
1 Starfish-Blog: Indische Mondphasen: 29. Tithi „Chaturdashi“
2 Swami Vivekānanda: Raja Yoga
3 Roberto Assagioli: Psychosynthese und transpersonale Entwicklung
Alice Bailey: Der Yoga-Pfad
Starfish-Blog: Transpersonale astrologische Psychosynthese
Michael Hoffmann: Gipfelerfahrungen des Glücks
Starfish-Blog: Der Lebensfilm